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© TRAN THIEN / CSRD

Wie wollen wir angesichts weltweiter Krisen zukünftig leben?

Ein Essay von Prof. Xiaomeng Shen

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    Die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen haben 2015 gemeinsame Ziele für nachhaltige Entwicklung definiert und zu raschem Handeln aufgefordert. Sie machten deutlich, wie wichtig die weltweite Zusammenarbeit ist und dass die Risiken, die die Menschheit bedrohen, übergreifend zusammenhängen.
    Die Halbzeitbilanz zur Agenda 2030 fällt nicht gut aus. Jüngste UN-Berichte zeichnen ein ernüchterndes Bild, was die bislang erzielten Fortschritte angeht: Die derzeit kaskadenartig miteinander verknüpften globalen Krisen verstärken und verschlimmern die bestehenden Bedrohungen für die Menschheit. Wie der aktuelle Weltarmutsbericht „Poverty and Shared Prosperity“ der Weltbank zeigt, hat die COVID-19-Pandemie im Jahr 2020 rund 70 Millionen Menschen zusätzlich in extreme Armut abrutschen lassen und damit den größten Rückschlag der letzten Jahrzehnte im weltweiten Kampf gegen Armut verursacht. Diese Entwicklung wird sowohl durch die andauernden militärischen Konflikte in aller Welt als auch durch die gravierenden Folgen des Klimawandels weiter verschärft.
    Prof. Xiameng Shen
    © UNU-EHS / Shen
    Die derzeit kaskadenartig miteinander verknüpften globalen Krisen verstärken und verschlimmern die bestehenden Bedrohungen für die Menschheit.
    PROF. XIAOMENG SHEN
    Vizerektorin der Universität der Vereinten Nationen und Direktorin des UNU-Instituts für Umwelt und menschliche Sicherheit, Bonn

    Die wirtschaftliche Entwicklung hat der Menschheit zwar beispiellosen materiellen Wohlstand, Gesundheit und einen hohen Lebensstandard gebracht, aber auch zu Krisen durch Klimawandel, Umweltzerstörung sowie zu sozioökonomischen Ungleichheiten geführt. Erstaunlicherweise berichten laut dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) sogar Menschen in Ländern mit höchsten Lebensstandards heute über größere Ängste als vor 10 Jahren. Weltweit fühlen sich sechs von sieben Menschen unsicher. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leidet jeder achte Mensch an einer psychischen Erkrankung. 

    Offenkundig haben Jahrzehnte der wirtschaftlichen Entwicklung nicht zu einem menschenwürdigen Leben für alle Menschen geführt, wie es die Weltgemeinschaft mit den Nachhaltigkeitszielen eigentlich erreichen will — und das, obwohl wir schon länger über die nötigen technischen und finanziellen Mittel verfügen, um die großen globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Armut und Ungleichheit zu meistern. Dies wirft die Frage auf: Was müssen wir tun, um die hehren Ziele zu erreichen, denen sich die Länder gemeinsam verschrieben haben?

    Der Weltklimarat (IPCC) betonte bei der Vorstellung seines Berichts 2022, dass wir unsere Lebensweise grundlegend ändern müssen, um die zur existenziellen Bedrohung gewordene Klimakrise zu bewältigen. Eine solche Veränderung setzt ein fundamentales Umdenken und rasches Umsteuern voraus. Dabei geht es um nichts Geringeres als die Abkehr von gängigen Wirtschaftsmaximen wie dem stetigen Streben nach Wachstum, die den gesellschaftlichen und politischen Diskurs bislang beherrschen. Das derzeitige Wachstumsparadigma muss also neu definiert werden. Um das Wohlergehen der Menschen zu sichern, ist ein alternatives „Wachstums“-Modell nötig, das auf Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit beruht.

    Ein tief verwurzeltes Paradigma zu ändern, ist zwar nicht einfach, aber auch eine weit zurückreichende gesellschaftliche Vereinbarung ist nicht naturgegeben und unumstößlich. Sie kann geändert und neu festgelegt werden. Im Laufe der Menschheitsgeschichte sind wir immer wieder neue Wege gegangen und haben unsere Gesellschaftsverträge neu verhandelt. Dass wir Menschen in der Lage sind, unser Verhalten und unsere Narrative zu verändern, dürfte niemand bestreiten. Die COVID-19-Pandemie hat dies besonders deutlich gemacht.

    Das Thomas-Theorem aus dem Jahr 1928

    Wenn Menschen Situationen als real definieren, so sind auch ihre Folgen real.
    William Isaac Thomas und Dorothy Swaine Thomas

    Wie wir eine Situation interpretieren, hängt also davon ab, wie wir sie subjektiv wahrnehmen. Diese subjektive Interpretation mündet dann in Handlungen. Das bedeutet: Die Gestaltung der Zukunft passiert jetzt, und zwar in unseren Köpfen. Statt passiv nach Problemlösungen zu suchen, können wir aktiv beginnen, Utopien in unserer Welt zu verwirklichen. Vieles, was sich Science-Fiction-Autoren ausdachten, ist Wirklichkeit geworden: Computer, Handys, Roboter, selbstfahrende Autos und sogar Wasserstoff, den Philip K. Dick in der 1954 veröffentlichten Kurzgeschichte „Jon’s World“ als „besten, aus Meerwasser gewonnenen Treibstoff“ beschreibt. Vorstellungskraft und futuristisches Denken sollten ebenso wichtig sein wie die Beschäftigung mit unserer Geschichte. Unsere Fähigkeit, uns eine völlig andere Zukunft vorzustellen, wird darüber entscheiden, ob wir globale Herausforderungen wie den Klimawandel und den Rückgang der Artenvielfalt bewältigen. Wir müssen diese Utopie dringend entwerfen und auf sie hinarbeiten.

    Diese utopische Vorstellungskraft gibt es schon lange imtraditionellen Wissen indigener Völker weltweit. Auch wenn die Kolonialisierung ihre alternativen Lebensweisen verdrängt hat, verdeutlichen sie, dass ein anderer Gesellschaftsvertrag möglich ist und es Alternativen zum landläufigen Denken gibt. Weltanschauungen wie Ubuntu in Afrika oder Buen Vivir in Lateinamerika, in deren Mittelpunkt ein symbiotisches Zusammenleben steht, verorten das gesellschaftliche Individuum inmitten der Natur. Gelebte menschliche Werte bilden so die Grundlage für Nachhaltigkeit. Solche Weltanschauungen bauen auf Wohlergehen durch ein echtes Miteinander und ermöglichen den Menschen damit eine gute Zukunft, ohne die Erde zu überlasten. Viele indigene Völker denken sieben Generationen voraus, ohne das Wort „Nachhaltigkeit“ zu kennen. Für sie ist Nachhaltigkeit kein Konzept, sondern gelebte Realität.

    In einer idealen Zukunft wäre der immaterielle Wert von etwas zudem viel wichtiger als sein Preis. Vieles, das ungemein wertvoll ist, ist unbezahlbar — zum Beispiel Zeit, Freundschaft oder Verbundenheit gegenüber Mensch und Natur. Wir müssen diese Werte pflegen und den Nutzen einer solchen Verbundenheit für unser eigenes Wohlergehen klar erkennen. Darüber hinaus gilt es, den Umweltschutz weltweit an die oberste Stelle zu setzen.

    Wie wollen wir nach den weltweiten Krisen leben? In einer Welt mit einem alternativen Wirtschaftssystem, das zum Wohlergehen und zur Entfaltung der Menschen beiträgt — und das statt Profit einen echten Beitrag für die Menschheit zum Ziel hat? Wird unser Handeln zukünftig von menschlichen Werten geleitet und kompromissloser Altruismus gefördert? Kann Fortschritt in den Dienst aller gestellt werden, statt einige Länder voranzubringen und andere zurückzulassen? Können wir vom Prinzip des Wettbewerbs abkommen? In einer vernetzten Welt kann das Wohlergehen der Menschen und des Planeten nur dann erreicht werden, wenn wir uns selbst nicht mehr nur als Individuen sehen. Weltweite Solidarität dient nicht nur den Schwächsten, sondern uns selbst und der Menschheit als Ganzes.

    Seit 1. August 2020 koordiniert PROF. XIAOMENG SHEN die Zusammenarbeit zwischen der UNU und verschiedenen Interessengruppen innerhalb und außerhalb der Vereinten Nationen. Darüber hinaus ist sie als Direktorin des UNU-EHS die oberste akademische und administrative Leiterin des Instituts und verantwortet dessen Organisation und Programme.

    15. März 2023

    Der Essay ist Teil des Jahresreports 2022 der Münchener Rück Stiftung

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